exposing the dark side of adoption
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Könnte sie mein Kind sein?

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Könnte sie mein Kind sein?

Von Melanie Mühl

Kinder in Indien: Eine Zukunft in Deutschland?

Kinder in Indien: Eine Zukunft in Deutschland?

08. März 2006 Sie sah aus wie ein Geschenk. Ihr zarter Körper steckte in einem sommerbunten Rüschenkleid. Eng legten sich die rosafarbenen Schuhe, die bei jedem Schritt quietschten, um ihre Kinderfüße. Die klimpernden Armreifen verrieten stets, wohin sie lief. Es war früher Mittag, und die indische Hitze hüllte Delhi ein. Vielleicht spürte Sushama, daß ihr Leben in diesem Augenblick neu geschrieben wurde. Vielleicht war sie deshalb so still.

Das Kinderheim lag in einem Hinterhof, bedrängt von brüchigen Häusern. Die Betreuerinnen lächelten, aber ihr Blick verriet Distanz. Sie warteten auf die Adoptiveltern aus der Schweiz. Anna Kramer (alle Namen geändert) und ihr Mann Paul kannten Sushama. Drei Monate zuvor waren sie schon einmal in Delhi gewesen. Zur Auswahl. Damals hatte die Zweijährige pausenlos gelacht. Alle Kinder hatten gelacht und um die Aufmerksamkeit der Fremden gebuhlt. Sie spürten, daß ein neues Leben lockte.

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Eine „Mängelliste“

„Wir haben ein Kind fürs Ausland“, sagte eine der Frauen. „Sehen Sie es sich an.“ Es war Sushama. Die Kramers schenkten den Kindern Seifenblasen und Luftballons. „Ich sah Sushama und überlegte mir, ob sie mein Kind sein könnte“, sagt Anna Kramer. Ihr Mann Paul sagt: „Ich habe die Kinder nicht miteinander verglichen.“ Im stickigen Büro der Heimleiterin surrte ein Ventilator, an dessen Geräusche sich die Kramers noch heute erinnern. Auf dem Tisch lagen Blätter. Die „Mängelliste“. Sushama war Epileptikerin, hatte zweimal unter Meningitis gelitten. Die Pflegefamilie, die sie einst zu sich genommen hatte, wollte sie nicht behalten. Die Kleine war ihnen zu anstrengend.

Physisch oder psychisch kranke Kinder vermitteln die indischen Behörden ins Ausland, ebenso Kinder mit besonders dunklem Teint. Man nennt sie „handicapped by colour“. Die gesunden Kinder bleiben in Indien. Verunsichert reisten die Kramers ab, sprachen mit Ärzten, diskutierten nächtelang und kamen wieder, um Sushama zu holen. Es war im August 2003, als ihr Traum in Erfüllung ging. Ihr Traum vom eigenen Kind. Doch er fühlte sich wenig traumhaft an. Paul Kramer sagt: „Es war wie im Film. Sie stand reisefertig vor uns.“ Als sie im Taxi saßen und ins Hotel brausten, weinte das Mädchen. Draußen flog Delhi vorbei. Die Kramers waren Eltern.

„Ich fühlte mich nicht vollwertig“

Anna Kramer ist achtunddreißig Jahre alt. Sie trägt kurze blonde Haare und einen ernsten Zug um den Mund. Wenn sie aber lacht, wirkt sie wie ein junges Mädchen. Jeden Freitag arbeitet Anna Kramer in einer Apotheke. Ihr Mann ist Wirtschaftsingenieur, ein Analytiker, der eigentlich jedes Risiko scheut.

Es war 1998, als Anna Kramers Kinderwunsch immer drängender wurde. „Ohne Kind“, sagt sie, „fühlte ich mich als Frau nicht vollwertig.“ In dieser Zeit schienen ihr überall Schwangere zu begegnen, und alle trugen sie dieses verklärte Lächeln im Gesicht. Anna Kramer wurde nicht schwanger, 1998 nicht und auch nicht in den nächsten Jahren. „Was ist mit mir nicht in Ordnung? Um diese Frage kreisten ihre Gedanken. Die Sticheleien der Kollegen schmerzten. Anna Kramer wollte dazugehören. Sie suchte Hilfe, eilte von Arzt zu Arzt, doch keiner wußte, warum sie das ersehnte Kind nicht bekam. „Ich spritzte ihr Hormone in den Oberschenkel“, sagt Paul Kramer. Der Wahnsinn begann. Sie schliefen nach Zeitplan miteinander, schließlich mußte die Temperatur stimmen. Es folgten Monate des Hoffens und Bangens, über die sich der Horror der künstlichen Befruchtung legte. „Irgendwann wußten wir, daß wir ein Kind adoptieren wollen.“ Eine stumme Einigkeit. Die Frage, ob sie ein fremdes Kind genauso lieben könnten wie ein eigenes, haben sich beide nie gestellt. Warum Indien? Weil wir dem Kind Chancen bieten möchten, die es im Herkunftsland niemals gehabt hätte, sagt der Vater.

Stille mag sie nicht

Die Kramers leben in einem Dorf nahe Zürich. Es gibt eine Kirche, einen Metzger und eine Bäckerei. Der Blumenladen ist schon seit einiger Zeit geschlossen. Vor den Häusern, die sich in den Hang schmiegen, liegen gepflegte Gärten. Man kennt sich, trifft sich beim Einkaufen und sonntags im Gottesdienst. Vor zwei Jahren verließen die Kramers Zürich und zogen in die Einsamkeit, „damit die Kleine in einer schönen Umgebung aufwächst“, sagt die Mutter. Der Blick aus dem Fenster streift schneebedeckte Hügel und Wiesen, auf denen im Sommer Schafe grasen.

Sushama sitzt auf dem Parkettboden und gluckst. Ihre schwarzen Haare sind dicht und wild, ihre Stimme ist laut. Stille mag sie nicht. Auf dem Wohnzimmertisch stapeln sich Ordner. Adoptionsunterlagen. Die erste Hürde, sagt Paul Kramer, sei der Sozialbericht. „Es kommt jemand vom Amt, prüft, wie man wohnt und als Paar miteinander umgeht. Fällt die Behörde ein negatives Urteil, darf man kein Kind adoptieren.“ Die Kramers besuchte eine fünfundzwanzig Jahre alte Praktikantin. Sie kam dreimal und fragte nach den Werten, die die Ehe tragen. Was bedeutet Liebe? „Wenn sie ein Kind adoptieren, müssen sie jetzt aber verhüten“, mahnte die Frau.

Eine lange To-Do-Liste

Später notierte sie: „Das Ehepaar Kramer habe ich als offenes, optimistisches Paar kennengelernt. Humor spielt in ihrer Beziehung eine wichtige Rolle. Herr und Frau Kramer fühlen sich gesund, hatten bisher keine nennenswerten Krankheiten.“ Die „To-Do-Liste Adoption“ ist sehr lang: „Einkommensausweis in Rupien“, steht dort geschrieben, darunter: „Foto von uns und unserem Haus, Empfehlungsschreiben von drei guten Freunden, Strafregister- und Kontoauszug, Wertschrift- und Guthabenverzeichnis“. Es ließen sich noch etliche Punkte nennen. Alle Dokumente müssen vom Notar beglaubigt und den indischen Behörden in englischer Sprache zugesandt werden. Eine Adoption kostet sehr viel Geld.

Das „Marie Meierhofer Institut für das Kind“ in Zürich betreute das Adoptionsverfahren, stellte die Kontakte zu den indischen Behörden her. Die Kramers nahmen an einem Vorbereitungskurs teil und trafen Paare, denen es wie ihnen ging. „Es waren wichtige Begegnungen, weil man merkt, man ist nicht allein.“ „Heftig“ nennt Anna Kramer die Sitzungen heute. „Diese Horrorgeschichten von psychisch gestörten Adoptionskindern schienen kein Ende zu nehmen.“ Es war eine Art Test, ob sich die zukünftigen Eltern auch genügend Gedanken gemacht hatten.

Es bringt eine Vergangenheit mit

Man könne die Probleme nicht drastisch genug schildern, sagt Katrin Hecking. Sie ist Diplompädagogin und arbeitet für die „International Child's Care Organisation“ (ICCO) in Hamburg. Was es bedeute, ein Kind mit einer anderen Hautfarbe großzuziehen, sei vielen nicht bewußt. „Die Frau muß mit den Blicken, ob sie sich einen afrikanischen Liebhaber geangelt hat, leben können.“ Adoption, sagt sie, sei immer auch ein Abschied vom eigenen Kinderwunsch. „Das Kind bringt Erbanlagen und eine Vergangenheit mit.“ Woher stammt es? Welche frühkindlichen Erfahrungen, welche seelischen und biologischen Erschütterungen haben es geprägt? Fragen, mit denen die Kramers kämpfen. „Man bekommt ein Kind und weiß nichts über dessen Leben, hat keine Vorstellung, wie es funktioniert“, sagt Anna Kramer. Viele Familien seien damit überfordert, sagt auch Katrin Hecking. Es beginnt mit scheinbaren Kleinigkeiten. Wann schläft das Kind, was ißt es?

Im Hotelzimmer in Delhi angekommen, steckte Sushama ihre Finger in jede Steckdose, und ihr Kopf verschwand in der Toilettenschüssel. Lachen und Weinen lösten einander im Minutentakt ab. Irgendwann schlief sie ein, mit einer Zahnbürste in der Hand. Die Fotos, die Anna und Paul Kramer in dieser Nacht schossen, zeigen erschöpfte Eltern und ein Kind mit staunenden Augen. Als sie später in Zürich landeten, sagte die Großmutter: „Das Kind hat krumme Beine.“ Die nächsten Monate sollten die härtesten im Leben der Kramers werden. Monate, die an der Ehe rüttelten. „Es muß doch einen Weg geben, wie drei Menschen normal unter einem Dach leben können.“ Ein Satz, den sich Paul Kramer immer wieder sagte.

„Es fiel mir schwer, sie zu lieben“

Sushama ist hyperaktiv. In den ersten Wochen räumte sie sämtliche Schränke aus, kroch in den Kühlschrank, trank aus der Toilette und warf sich auf den Boden, wenn ihr etwas nicht gefiel. Die Wutanfälle ließen den kleinen Körper stundenlang zittern. Albträume plagten sie. Alleine schlafen konnte Sushama nicht, also zog sie ins Ehebett. Vor wenigen Monaten hatte sie einen epileptischen Anfall. „Wir standen unter Strom“, sagt Paul Kramer. „Ich konnte mir nicht in Ruhe die Haare waschen“, sagt seine Frau. Sie nahmen ab, obwohl sie ständig Schokolade aßen, und stritten jeden Tag. Am Anfang sei Sushama ein Fremdkörper gewesen, es habe gedauert, bis eine Bindung entstand. „Ich glaube, Paul hätte gerne ein ruhiges Kind gehabt, das man in die Ecke stellen kann.“ Paul sagt: „Es gab Momente, in denen ich mich gefragt habe, ob es richtig war, Sushama zu adoptieren. Es fiel mir schwer, sie zu lieben. Ich durchschritt emotionale Täler, die kannte ich nicht. Heute kann ich mir ein Leben ohne sie nicht mehr vorstellen. Sie ist unsere Tochter und wir lieben sie.“ „Paul sieht die Dinge oft zu schwarz“, sagt Anna Kramer. Weil Sushama nicht so gut sprechen kann wie Kinder in ihrem Alter und weil sie kleiner ist als all die anderen. Er hat Angst, daß sie irgendwann eine Sonderschule besuchen muß.

Anna Kramer muß oft für Sushama kämpfen, auch in der Spielgruppe. Die Lebhaftigkeit ihrer Tochter mißfällt den Müttern dort sehr. Anna Kramer sagt: „Ein ausländisches Kind paßt nicht in die heile Welt der Dörfler.“ Sushama darf die Spielgruppe, die sie so mag, nur noch einmal in der Woche besuchen. Vielleicht, sagen die Kramers, verkaufen sie ihr Haus bald wieder. Nach einem Jahr, sagt Anna Kramer, habe sich Paul ernsthaft überlegt, ob er mit Sushama leben möchte. „Hätte er sich gegen sie entschieden, unsere Ehe wäre wohl zerbrochen.“

Wie ein Möbelstück

In der Schweiz herrschen andere Adoptionsgesetze als in Deutschland. Zwölf Monate begleitet ein Vormund das Pflegeverhältnis. Gibt es Probleme, unterstützt er die Familien. Erst nach einem Jahr können die Pflegeeltern einen Adoptionsantrag für das Kind stellen. „Will ein Paar das Kind nicht behalten, suchen wir ein neues Zuhause“, sagt Veronika Weiß. Sie ist Psychologin bei der Schweizerischen Fachstelle für Adoption in Zürich. Bis eine neue Familie gefunden sei, lebe das Kind im Heim. Natürlich passiere das nur selten, sagt die Psychologin. Aber es passiert. Einmal habe ein Ehepaar das Pflegekind einfach vor die Tür der Nachbarn gestellt, mitten in der Nacht. Wie ein Möbelstück. „Sie dachten, es genüge, dem Kind ein hübsches Zimmer einzurichten. Adoptierte Kinder sind aber schon ,Persönchen' mit einer eigenen Lebensgeschichte.“

Es ist nicht einfach, sich auf diese „Persönchen“ einzulassen. Die Kramers wissen das. Sie wollen vielleicht ein zweites Kind adoptieren.



Text: F.A.Z., 08.03.2006, Nr. 57 / Seite 44
Bildmaterial: AP

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2006 Mar 8