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Konflikt um «Terre des Hommes» in Indien

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28) Konflikt um «Terre des Hommes» in Indien
Das Kinderhilfswerk nach dem Pädophilie-Skandal
Die indische Partnerorganisation des schweizerischen Kinderhilfswerks «Terre des Hommes» hat gegen dieses schwere Vorwürfe erhoben: Die Lausanner Organisation habe ihre Unterstützung von vier Schulen eingestellt, weil sie den Skandal über einen ehemaligen Leiter verdecken wolle, welcher der Pädophilie und der Unterschlagung verdächtigt wird. Ende 1996 wurde der Leiter des indischen Partnerwerks von «Terre des Hommes» (TdH), Milton McCann, von der Mutterorganisation in Lausanne entlassen. Der Grund war ein schwerer Verdacht der Pädophilie. McCann, ein indischer Christ, soll über Jahre hinweg seine Machtposition missbraucht haben und junge Knaben, darunter viele Waisen, die in einem TdH-Heim in Westbengalen untergebracht waren, zum Sexualverkehr verführt haben. Gleichzeitig gibt es zahlreiche Verdachtsgründe, dass McCann mit den Hilfsgeldern aus der Schweiz mehr als grosszügig umgegangen war und kaum einmal Rechenschaft darüber abgelegt hatte. TdH, vom Goodwill privater Spender abhängig und daher auf ihren guten Ruf bedacht, wollte den Skandal möglichst rasch loswerden. Gegen McCann wurde in Kalkutta ein Gerichtsverfahren angestrengt.
Bleibende Verbindungen
Beinahe vier Jahre später ist das Verfahren immer noch hängig. Nicht nur das: McCann ist weiterhin Geschäftsführer eines Kinderhilfswerks, Usthi Foundation, das massgeblich mit schweizerischen Spendegeldern unterhalten wird. Usthi waren von TdH in ihrem Hauptquartier in Kalkutta Büroräume zu Verfügung gestellt worden, und eine Zeit lang gelang es McCann auch nach seiner Entlassung, über diese räumliche Nachbarschaft die plötzlich verwaiste TdH Indien weiterhin zu beeinflussen. Dass McCann noch immer unbehelligt wirken kann, ist zudem nicht (nur) eine Begleiterscheinung der langsam mahlenden indischen Justizmühlen. TdH habe sich, dies ist zumindest der Vorwurf des Leiters von TdH India, S. K. Biswas, kaum Mühe gegeben, die Klage gegen McCann voranzutreiben.
Biswas, der in einem TdH-Spital als Chirurg gearbeitet hatte, war 1997 von TdH Lausanne zum Sekretär der indischen Partnergesellschaft berufen worden. Nach dem Zeugnis schweizerischer TdH-Mitarbeiter gelang es Biswas, die Organisation in kurzer Zeit aus der Krise herauszuführen. Gleichzeitig wollte er auch das diffuse Verhältnis zur «Mutter» in
Lausanne auf sichere Beine stellen. Obwohl TdH Indien eine selbständige Organisation ist und obwohl es keinen Partnerschaftsvertrag gibt, wurde sie seit ihrer Gründung wie eine Filiale mit Geldern aus Lausanne unterstützt. Heute rechtfertigt sich die grosse Hilfsorganisation damit, dass sie während Jahren nur als Zahlstelle fungierte, während lokale Partnergruppen überall in der Schweiz die Beziehungen mit Indien aufrechterhielten. Diese diffuse Beziehung kam McCann gelegen, da er so mit den Geldern nach Belieben umspringen konnte junge «Söhne» McCanns, so ein Bericht von TdH Elsass aus dem Jahr 1996, sollen mit Cartier-Uhren umherstolziert sein.
Laxe Kontrollen
Letztes Jahr wurde TdH Indien mit der Nachricht aus Lausanne überrascht, dass die Finanzierung der Schulprogramme innert dreier Jahre eingestellt würde. Dies sei das Resultat einer neuen strategischen Ausrichtung des Hilfswerks, in der die Erziehung keine Kernaktivität mehr sei. Aus der Sicht von Biswas versteckt sich dahinter aber mehr. Er hegt den Verdacht, dass TdH die Tätigkeit in Westbengalen möglichst rasch einstellen wollte. Wenn sie aber bereit war, dafür eine zentrale Aufgabe weltweit fallen zu lassen, musste sie schon schwerwiegende Gründe haben. «Wusste die Organisation mehr über die pädophilen Aktivitäten ihres Vertreters in Indien und fürchtet nun den Vorwurf, nicht rechtzeitig gehandelt zu haben? Oder ist McCann vielleicht sogar im Besitz von Dokumenten, welche Personen in Europa belasten könnten?», fragt Biswas.
Ebenso schwer wiegt der Verdacht, dass TdH ihrer Pflicht zur finanziellen Kontrolle während vieler Jahre nicht nachgekommen sei. Es gibt Dokumente, die zeigen, dass McCann sich geweigert hatte, Finanzkontrollen und Projektevaluationen aus der Schweiz zu akzeptieren. Und es gelang ihm, sich mit Hilfe schweizerischer Freunde gegenüber Lausanne auch durchzusetzen. Der Stiftungsrat hatte sogar explizit jede Kontrolle der indischen Organisation aus den Händen gegeben, als McCann damit drohte, eine eigene Organisation auf die Beine zu stellen. So kam es, dass ein schweizerischer Programmverantwortlicher berichten musste, er habe während seiner Jahre als TdH-Vertreter in Indien kein einziges Mal Einsicht in die Bücher bekommen. Nun will die Organisation mit einem Mal Kehraus machen und überlässt die indische Partnerorganisation mit ihren vier Schulen ihrem Schicksal. Mitarbeiter von TdH Indien befürchten sogar, dass McCann diese übernehmen könnte, wenn die finanzielle Unterstützung aus Lausanne in anderthalb Jahren ausläuft.
Bestechungsvorwürfe
Dieses Risiko ist umso realer, als die pendente Klage gegen McCann nur eine relativ unbedeutende Hinterziehung von Stiftungseigentum betrifft, die pädophilen Aktivitäten aber mit keinem Wort erwähnt. Der Grund, laut dem zuständigen Untersuchungsbeamten in Kalkutta: Die Vorwürfe sind verjährt. Aber es gibt verbürgte Belastungsaussagen, die sich auf Ereignisse im Jahr 1996 stützen. Warum wurden diese nicht in die Klage aufgenommen? Der Beamte habe von Biswas Bestechungsgelder verlangt. Lausanne, darauf angesprochen, habe dies verständlicherweise kategorisch zurückgewiesen, es aber unterlassen, so Biswas,
die Behörden davon in Kenntnis zu setzen und auf eine Überweisung des Falls an die Kriminalpolizei CBI zu drängen. Die Anklageschrift sieht nun ganz so aus, als sei der Beamte, Mrinal Sarkar, bei der Gegenseite fündig geworden. Auf die Frage, ob er denn annehme, dass McCann in Haft kommen werde, meinte er freimütig: «Ich glaube nicht, dass er sitzen wird.»
Statt dass McCann belangt wird, sieht sich nun Biswas unter Klage gestellt - von niemand anderem als dem Kinderhilfswerk in Lausanne, das ihn vor drei Jahren angestellt hat. TdH zieht die Integrität ihres «Troubleshooter» zwar nicht in Zweifel, ist aber verärgert über den manichäischen Eifer, mit dem sich Biswas für die Rettung der Schulen - und damit gegen die Mutterorganisation, die sich zurückziehen will - einsetzt. Der neue Generalsekretär, Peter Brey, weilte im Juni in Kalkutta, vermied es aber, das Hauptquartier zu besuchen und den Beschluss, die Hilfe auslaufen zu lassen, der Belegschaft zu erläutern. Er beharrte darauf, dass Biswas ihn im Hotel besuche - was dieser zurückwies. Der Präsident der indischen TdH, Christian Wenger, hat wie das Vorstandsmitglied Heini Hertach - beide sitzen auch im Lausanner Stiftungsrat - die Organisation, der sie vorstehen, seit Ausbruch der Krise vor vier Jahren nie besucht. Diese Verhaltensweisen wecken den Eindruck, das Kinderhilfswerk wolle möglichst rasch das Buch McCann und Kalkutta zuschlagen, auch wenn dabei viel Ungelöstes unter den Teppich gewischt wird.
Dieses Verhalten ist wenig verständlich, wenn man bedenkt, dass die Krise um McCann die indische Organisation traumatisiert hat. Biswas und seine Mitarbeiter machen zudem geltend, dass sie ihres Lebens nicht mehr sicher seien. Bei einem Besuch in einer der Schulen seien sie kürzlich von Unbekannten umringt und mit Gewalt bedroht worden - sie vermuten, dass McCann dahinterstecke. Hinzu kommen Vorwürfe, dass die Lausanner Organisation zu wenig tue, um sich gegen die Infiltration durch Pädophilen-Ringe zu wehren. Nur wenige Monate nach der Entlassung von McCann in Indien musste das Hilfswerk 1997 seinen Delegierten in Äthiopien wegen ähnlicher Vorwürfe entlassen. Dasselbe geschah mit McCann in Indien - mit dem Unterschied, dass dieser immer noch einem schweizerischen Hilfswerk vorsteht, das früher der Lausanner Organisation nahestand. Handkehrum sieht sich die indische Organisation, die von McCann-Leuten gesäubert wurde, aufs Trockene gesetzt und muss nun befürchten, dass ihr das Geld ausgeht, mit dem sie die Erziehung von über 1400 Kindern mittelloser Eltern unterstützt hat.
Quelle: Neue Zürcher Zeitung vom 11. August 2000, Seite 27