Die verlorene Tochter
Von Florian Klenk
Falter Magazin
Nachdem sie all die Klagen, Briefe, DNA−Gutachten und Artikel wieder in die vielen Ordner gepackt hat,führt Martina Bauer mit leisen Schritten in den ersten Stock ihres Hauses. Jetzt, flüstert sie und knipst kurz das Licht an, zeige ich Ihnen noch meinen Schatz. Friedlich schlummert der sechsjährige Noah in seinem Bettchen. Frau Bauer sagt: Vielleicht wurde auch er in Afrika gestohlen, so wie seine Schwester.
Frau Bauer heißt nicht Bauer. Auch der kleine Noah trägt einen anderen Namen. Die wahre Identität dieser Familie muss zum Schutz der Kinder geheim bleiben. Nur wenige Nachbarn wissen vom Drama, das die Bauers seit drei Jahren zermürbt.
Ist er nicht wunderbar?, fragt Frau Bauer und dreht das Licht wieder ab. Wie wäre sein Leben verlaufen, wäre er nicht hier zu dieser Familie gebracht worden? Wie gut es Noah hier doch geht. Bilder aus dem Familienalbum: Noah und der Nikolo. Noah im Garten. Noah als Maus verkleidet beim Kinderfasching. Ein schwarzes, ein österreichisches Kind. Frau Bauer ist seine Mutter, zumindest auf dem Papier. Sie hat ihn adoptiert. So soll es bleiben auch zu Noahs Wohl.
Martina Bauer weiß, dass vieles nicht stimmt im offiziellen Lebenslauf dieses Kindes, das sie vor vier Jahren als Zweijährigen adoptiert hat. Aus dem Familienalbum lächelt auch ein kleines Mädchen. Es lebt nicht mehr bei den Bauers. Es sitzt seit über einem Jahr schwer traumatisiert, wie es in einem Gerichtsgutachten heißt, in einem Jugendheim in Niederösterreich.
In einem Therapiezimmer steht eine Topfpflanze, die Psychologen auf den Namen der afrikanischen Mutter des Kindes getauft haben. Das Kind streichelt Kenet. Die Jugendämter wissen nicht, was nun mit dem Mädchen geschehen soll. Zurück nach Afrika? Das wäre sein größter Wunsch. Hier lassen, weil es hier besser lebt? Die Bauers und die Behörden sind überfordert mit dem Fall. Mittlerweile ist das Mädchen 13 Jahre alt und besucht trotzdem erst die zweite Klasse der Volksschule.
Das verlorene Mädchen hörte auf den Namen Chara und wurde von den Bauers als Noahs Halbschwester mit ihm aus Äthiopien adoptiert. Erst sprach sie nur Amharisch und stotterte seltsame Worte. Kenet! Kenet!, Mati! Mati! Frau Bauer verstand nicht, was das Mädchen damit sagen wollte. Doch als es endlich ein paar Brocken Deutsch konnte, sagte Chara: Ich Mati. Mama Kenet. Noah nicht mein Bruder. Mati das war der Spitzname des Mädchens. Frau Bauer verspürte diese Worte wie einen Schlag in die Magengrube. Sie ahnte, was heute Gewissheit ist: Ihr Kind war gestohlen worden.
Der Fall der kleinen Chara ist die verstörende Geschichte einer Adoption, die sich Stück für Stück als Kindesverschleppung entpuppte. Der Fall untergräbt das Vertrauen in den korrekten Ablauf von Auslandsadoptionen wie jüngst auch schon die Verschleppung von angeblichen Waisenkindern aus Darfur durch Mitarbeiter einer französischen Hilfsorganisation, die dafür im Tschad zu acht Jahren Zwangsarbeit verurteilt wurden.
Wie die Sache bei den Bauers endet, ist völlig offen. Die Ermittlungen in Wien und Äthiopien gestalten sich schwierig, die rechtliche Lage ist kompliziert. Doch schon jetzt gibt der Fall Einblicke, wie fahrlässig nicht nur Behörden, sondern auch ein Wiener Adoptionsverein namens Family for You noch agierte, selbst nachdem schwerste Verfehlungen korrupter Mitarbeiter in Äthiopien enthüllt worden waren.Für den Verein ist der Fall Chara ein bedauerlicher Einzelfall, wie Petra Fembek, Vorsitzende der Organisation, noch heute sagt. Sie ist eine energische Frau von 36 Jahren, die zwar gerne ganz generell über Auslandsadoptionen sprechen will, zum Fall der kleinen Chara aber nur schriftlich antwortet. Sie residiert in einem Vereinslokal über den Dächern Wiens. An den Wänden Bilder adoptierter Babys. Es geht nicht nur um Fembeks Ruf, sondern auch um ihre Existenz. Sie wehrt sich mit unkonventionellen Mitteln. Ende 2006, als erstmals über den Fall berichtet wurde, stellte sie einen offenen Brief auf die Homepage ihres Vereins. Die Bauers, so schrieb sie, seien herzlos, sie hätten ihr Adoptivkind verstoßen, um sich aus finanziellen Verpflichtungen zu winden.
Die Bauers leben in Niederösterreich, in einem Einfamilienhaus, davor ein silberfarbener Mercedes, ein Kätzchen im Garten. Als sie sich 2003 entschlossen, Kinder zu adoptieren, lebte das Paar schon 18 Jahre zusammen. Sie fragten einander: War das alles? Sie war 43, arbeitete als Pädagogin. Er war 62, leitender Angestellter. Es waren Kinder, die zu ihrem Glück fehlten. Doch es klappte nicht mehr mit dem Nachwuchs. Sie dachte an künstliche Befruchtung. Frau Bauer sagte: Lass uns kein Risiko eingehen, sondern ein Waisenkind adoptieren. Am besten wir nehmen Geschwister. Sie wollten keine Babys, die aus Not weggelegt worden waren. Äthiopien, das war so ein Bauchgefühl, sagt Frau Bauer heute. Sie meinte es gut auch für sich selbst.
Die Bauers kontaktierten Family for You. Auf der Website sieht man reizende Babys, es ist dort von den Rechten elternloser Kinder die Rede. Vereinsobfrau Petra Fembek posiert auf der Homepage mit ihrem Mann Michael. Stolz sitzen die beiden neben ihren zwei indischen Adoptivtöchtern. Die Fembeks genießen einen guten Ruf in der Stadt vor allem in Wiens Wirtschaftswelt. Bei Charitys sammelten Wirtschaftsbosse für Projekte des Vereins, Kanzler Alfred
Gusenbauer ließ ein Abendessen mit sich selbst versteigern.
2003 besuchten die Bauers den ersten Vorbesprechungsabend. In Fembeks Privatwohnung saßen sie mit anderen Paaren, und wir breiteten im Sesselkreis unser Innerstes aus, wie Frau Bauer erzählt. Man duzte einander, erzählte von Fehlgeburten, an den Wänden hingen indische Tücher. Bei späteren Treffen hatten Adoptiveltern ihre Adoptivbabys dabei. Frau Bauer sagt: Eines war süßer als das andere. Ich war so neidisch. Herr Bauer sagt heute: Das Ganze hatte auch etwas Sektoides. Family for You erklärte den Bauers die Zahlungsmodalitäten. Knapp 10.000 Euro seien zu bezahlen. 5200 Dollar davon würden an den äthiopischen Repräsentanten des Vereins überwiesen, einen Anwalt namens Deribe Nesibu. So ein Repräsentant, erklärte man den Bauers, sei in Äthiopien vorgeschrieben, um Auslandsadoptionen durchzuführen.
Deribe Nesibu ist heute die zentrale Figur in dem Fall. Von Family for You wurde er immer wieder als unser Vertreter bezeichnet. In Verträgen verpflichtet sich Fembek, dem Mann genauestens auf die Finger zu schauen, eine Haftung für sein Handeln schloss sie jedoch aus. Auf Fotos, die Family for You auf seiner Webpage veröffentlichte, trägt Nesibu feine Sommeranzüge. Er war der Gott, der uns die Kinder bringt, erinnern sich die Bauers. Einmal hätten sie sogar bei einem Flugticket für eine Reise nach Wien mitbezahlt. Wir Idioten!, sagt Frau Bauer heute.
70 Adoptionen hat Nesibu laut Petra Fembek für Family for You in Äthiopien durchgeführt. Nesibu wurde von den Adoptionseltern immer pro Fall bezahlt. Mit 2600 Dollar, wie Fembek sagt. Das ist viel Geld in Äthiopien, wo die Menschen im Schnitt 100 Euro pro Jahr verdienen. Er sollte damit die Adoptionskosten begleichen, die Familien vor Ort betreuen, Gehälter bezahlen und die laufenden Kosten eines Waisenhauses bestreiten. Bernd Wacker, ein in den Fall involvierter Adoptionsexperte des deutschen Kinderhilfswerks Terre des Hommes warnt jedoch, die Bezahlung pro Fall sei ein aus der Perspektive des Kinderschutzes kaum mehr zu vertretendes Verfahren, das weltweit immer wieder dazu geführt hat, geraubte, entführte oder ihren Eltern auf andere Weise entzogene Kinder mit gefälschten Papieren künstlich zu Waisenkindern zu machen
Deribe Nesibu hat mittlerweile ein Geständnis abgelegt und die Behörden in Addis Abeba zu Charas richtiger Mutter geführt, ein DNA−Test beweist es. Die Frau, Kanet, eine Wäscherin aus den Slums von Addis Abeba, hatte sich im äthiopischen Außenamt ein Haarbüschel für die Genprobe ausgerissen. Nesibu gestand, Beamte bestochen zu haben, damit diese Dokumente über die Freigabe des Kindes fälschen, um die Taten von Kinderfängern zu decken.
Im Jahr 2004 rückten die mit ihm aus und besuchten die Wäscherin in ihrer winzigen Hütte. Sieben Euro verdient sie im Monat. Vier Kinder sollte sie damit durchbringen, ihr Mann lag im Sterben. Zwei Söhne lebten bereits am Land bei Verwandten. Ihr jüngstes Mädchen, so sagt die Witwe heute, sollte es besser haben.
Die Männer versprachen Kenet, das Kind nach Amerika zu bringen. Es werde dort Geschenke bekommen, einen reichen Mann heiraten. Sie werde zu ihrem Kind telefonisch Kontakt halten und ihm schreiben können.
Die Mutter willigte ein, ließ das Kind gehen. Doch sie ahnte nicht, dass ihre Tochter unter falschem Namen nach Niederösterreich kommen und nie wieder bei ihr auftauchen sollte. Sie habe, so gab sie vor den Behörden in Äthiopien an, von Family for You kleinere Unterstützungen erhalten. Der Verein bestreitet jedoch vehement, damit etwas zu tun zu haben es wäre schwerkrimineller Kinderhandel, Strafandrohung: bis zu drei Jahre.
Das Mädchen, so erzählen es heute ihre österreichischen Psychologen, hat den Tag seiner Abreise Richtung Europa noch in guter Erinnerung. Sie habe damals eine grüne Schuluniform getragen und eine Kette: Da war der Gott und Maria drauf. Die Kette, so erzählte sie, riss ihr Nesibu vom Hals. Das brauchst du nicht mehr, sagte er. Nesibu habe ihr auch verboten, ihren wahren Namen zu nennen. Sie heiße ab jetzt Chara. Kurz darauf klingelte bei Bauers in Niederösterreich das Telefon. Zwei Halbgeschwister stünden zur Abholung bereit, teilte eine Mitarbeiterin von Family for You mit. Noah und Chara. Von ihrer Tante seien die Waisenkinder in einem Heim abgegeben worden. Es gebe noch keine Fotos, aber alle Dokumente. Die Adoption sei vollzogen. Wir waren fertig vor Freude, sagt Frau Bauer.
Sie flog nach Addis Abeba. Deribe Nesibu empfing sie am Flughafen. Es nieselte, der Wagen versank im Morast der Millionenstadt. Ich sah Verkrüppelte mit vereiterten Augen, die ihre Hände ausstreckten, erinnert sich Frau Bauer. Am nächsten Morgen führt Nesibu sie zu einem Family−for−You−Kinderheim. Noah und Chara warten schon. Sie seien zwei und vier Jahre alt, heißt es. Chara wirkte älter, sagt Frau Bauer. In Wahrheit war das Mädchen neun. Sie hatte keine Milchzähne mehr. Hätte ich ihr wie einem Pferd in den Mund schauen sollen?, fragt Frau Bauer. Ich konnte das Kind doch nicht stehen lassen.
Frau Bauer wunderte sich, dass alles so problemlos ablief, und darüber, wie schlicht die Papiere waren. Im äthiopischen Adoptionsantrag waren nur die Vornamen und das Alter der Kinder handschriftlich eingetragen.
Sonst gab es keinerlei persönliche Merkmale, ja nicht einmal Fotos. Die österreichische Botschaft stellte denKindern Visa aus ohne sie je gesehen zu haben. Ein schwerer Fehler, wie die Diplomaten heute gestehen. Die Bauers hatten ihre Kinder, es kam Leben ins Haus. Verständigen konnten sie sich mit den beiden anfangs nicht. Die Kleinen lernten Deutsch: Das ist gut, Popo, Fenster, Tisch. Langsam begann das Mädchen zu sprechen, es begann zu revoltieren, es quälte seinen Bruder. Jugendpsychologen werden später sagen, es protestierte damit gegen sein Schicksal. Denn Chara gab zu verstehen: Ich wurde gestohlen. Die Bauers wussten nicht weiter. Sie riefen den Verein zu Hilfe doch der erklärte, dass Adoptionen niemals aufgehoben werden können. So begannen Behördenkriege, es tauchten äthiopische Diplomaten im niederösterreichischen Jugendheim auf. Botschafter schickten einander Depeschen. Schließlich wurde den Bauers das Sorgerecht für Chara entzogen. Christine Moosbrugger von der österreichischen Botschaft in Addis Abeba sagt: In diesem Fall gibt es nur Verlierer. Der zuständige Bezirkshauptmann von Neunkirchen, Heinz Zimper, beteuert: Ich arbeite an einer Lösung. Jugendexperten hätten Angst, dass das Kind den nächsten Kulturschock erlebt, wenn es nach Äthiopien zurück muss. Chara fährt Ski, will Judo lernen, sie liebt die Zauberflöte. Wird sie all das auch in Äthiopien tun können? In dem Land, in das sie sich sehnt? Begreift sie, wohin sie will?
Die Entführung Charas wirft verstörende Fragen auf. Es sind ganz grundsätzliche Fragen, die Adoptionseltern, Behörden und Diplomaten umtreiben: Hat der Fall System? Gibt es noch mehr Opfer, auch bei anderen Vereinen und Vermittlern? Es gibt viele Antworten auf diese Fragen.
Bernd Wacker, der in dem Fall beigezogene deutsche Adoptionsexperte, spricht von skandalösem Dilettantismus des Vermittlervereins, aber auch des der offensichtlich überforderten Wiener Zulassungs− und Aufsichtsbehörde. In einem Bericht an das österreichische Justizministerium zeigt er sich fassungslos, auch über die fehlende Kontrolle des äthiopischen Repräsentanten des Vereins. Dass es weitere solche fahrlässig−kriminellen Vermittlungen gegeben hat, sei nicht auszuschließen. Wacker fordert eine Überprüfung zumindest aller äthiopischen Adoptionen des Vereins durch eine unabhängige, fachkundige Kommission. Auch die Staatsanwaltschaft Wien will den Fall genau prüfen.
Der Fall feuert die Debatte über Sinn und Moral von Auslandsadoptionen an. Bis zu 5000 Kinder werden pro Jahr aus Äthiopien in den Westen gebracht, schätzen Hilfsorganisationen. Michael Zündel, ehemaliger Vorsitzender eines anderen österreichischen Adoptionsvereins, beklagte kürzlich in einem offenen Brief, in Addis Abeba seien Kinderhändler unterwegs, die Kinder verschleppen, verkaufen oder die Not armer Familien ausnützen und sie um lächerliche Beträge aus den Familien loskaufen. Zündel schrieb, er könne Adoptionen in Äthiopien nicht mehr verantworten.
Wer aber haftet nun im Fall Chara für die Schäden. Wer sorgt dafür, dass das entführte Mädchen, dessen Adoption inzwischen aufgehoben wurde, in Wohlstand aufwächst, so wie es der Mutter versprochen wurde? Die Behörden wollen Charas Mutter nicht in Österreich leben lassen sie befürchten, dass andere Mütter folgen könnten. Die Bauers sagen, sie hätten gerne eine Patenschaft für das Mädchen übernommen, doch Experten rieten ab. Der Staat solle das Geld vorschießen und bei Fembek, der Vorsitzende von Family for You, einklagen. Die hat eine Lösung angeboten: Bis zum 18. Lebensjahr will sie für Chara Unterhalt bezahlen 70 Euro pro Monat. Insgesamt also rund 5000 Euro die Hälfte der Gebühr, die die Bauers für die Adoption zu zahlen hatten.
Wie es mit Noah weitergeht? Er tollt durchs Haus, er setzt sich eine afrikanische Maske auf. Er soll in Österreich bleiben, sagen die Bauers. Er habe anders als Chara keine Erinnerung an sein früheres Leben in Afrika.