Million Dollar Baby
Million Dollar Baby
Einem Schweizer wird in Costa Rica der Prozess gemacht - er soll mit Adoptivkindern gehandelt haben. Kinderlose Paare in Europa zahlen bis 30 000 Dollar für ein Baby. Das Schicksal von Jennifer, die Menschenhändler für 55 Dollar kauften.
Es ist ein ruhiger Sonntagnachmittag, als die Polizei die Villa stürmt. Das mit Gitterfenstern gesicherte Haus befindet sich in «EI Jardin», einem Mittelklassequartier von San José. Einer der Polizisten drängt Gilles zu Boden. Die Handschellen schnappen zu.
Gilles R., 20-jährig und Schweizer Staatsbürger, lebt seit drei Jahren in Costa Rica. Mit seiner Mutter wohnt er zwanzig Kilometer ausserhalb der Hauptstadt San José in einem Mietshaus. An jenem Sonntag - dem 21. September 2003 - ist er zu Gast in der Villa mit den Gitterfenstern. Er will die Mutter seiner Freundin Dorian Perez kennen lernen, mit der er seit vier Wochen liiert ist. Dorians Mutter verdient ihr Geld mit Adoptionen.
Polizisten filmen die Kinder
Doch dass er hier in ein Netzwerk geraten ist, das international mit Babys handelt - dies kann Gilles R. an diesem Sonntag nicht wissen. Ihm fällt wohl auf, dass Wiegen in den Zimmern stehen, neun Babys liegen darin verteilt. Auch ein Kindermädchen ist da, eine Mutter und eine Schwangere. Doch Gilles, aufgewachsen im Appenzellerland, sinnt nicht lange nach. «Hier bringen die reichen Städter ihre Babys hin, wenn ein grosses Fussballspiel ansteht», denkt er. Im Fernsehen läuft ein Derby. Gilles findet, er könne sich nützlich machen. Als die Polizei eindringt, kocht er gerade Spaghetti.
Am Boden liegend, die Hände auf dem Rücken, sieht er, wie zwei Polizisten die Babys aus den Wiegen heben, wie ein dritter Polizist die Kinder filmt, als sie schreiend auf dem Flur liegen. Er hört, dass von einer Rettungsaktion die Rede ist. Gilles, der Spanisch spricht wie ein Einheimischer, fragt nach dem Durchsuchungsbefehl. Stracks hält ihm ein Polizist das Dokument vor die Nase. Und sagt: «Sie sind verhaftet wegen Handels mit Minderjährigen.»
Eines der Babys, das auf dem Flur nebenan schreit, ist gerade einen Monat alt. Es trägt den Namen Jennifer Estefania Zet Tubac und wurde am 23. August geboren, 1500 Kilometer weiter nördlich.
In Guatemala, nahe der Stadt San Juan, fragte die Hebamme Jennifers Mutter, als sie in den Wehen lag: «Darf ich dir meine Freundin vorstellen? Sie heisst Do?a Selma. Sie meint es gut mit dir.» Do?a Selma fragte: «Kannst du mir dein Baby schenken?» Und die Mutter, allein stehend, überfordert und verzweifelt, sagte: «Ja.»
Hätte die Razzia in San José nicht stattgefunden, wäre Jennifer bald darauf auf der Website der US-Agentur International Adoption Resources aufgetaucht. Neben ihrem Foto hätte gestanden: «Dies ist ein gesundes Baby, das zur Adoption erhältlich ist. Jennifer Estefania kann im Oktober heimkommen!»
Pro Baby ein Dutzend Bewerbungen
Die Vermittlung von Adoptivbabys aus Schwellenländern ist ein Millionengeschäft, denn die Nachfrage der Industrienationen nach Neugeborenen übersteigt das Angebot bei weitem. So gelangen in der Schweiz im Jahr nur 40 Babys zur Adoption, doch um jedes dieser Babys bewerben sich ein Dutzend Paare. Die Kantone beschränken ihre Wartelisten, und wer etwa in Zürich nach zwei Jahren noch kein Adoptivkind zugesprochen erhalten hat, muss seine Hoffnungen begraben. Darum werden auch in der Schweiz Babys aus dem Ausland eingekauft. Jedes fünfte Paar, schätzen Fachleute, ist unfruchtbar. Die meisten wünschen sich dennoch ein Kind, viele sehnlichst, einige um jeden Preis.
Das Uno-Kinderhilfswerk Unicef schätzt, dass jedes Jahr 60 000 Babys über Landesgrenzen hinweg adoptiert werden. Ein Grossteil davon gelangen in die USA, wo die Auslandsadoptionen von 6500 im Jahr 1992 auf 21000 im Jahr 2002 gestiegen sind. Am unerfüllten Kinderwunsch verdienen weltweit Hunderte von Agenturen, viele in der Grauzone zwischen Legalität und Verbotenem. Sie tragen Namen wie Rainbowkids, Amis des enfants du monde oder Kinder unserer Welt, sie preisen ihre Dienste im Internet an und oft auch gleich die Babys, präsentiert wie im Katalog. Einige geben sich als Hilfswerke aus, sind aber Teil eines fein gestrickten Netzwerks, in dem Kinderhändler, Anwälte und korrupte Beamte verdienen. Doch selbst wenn sich Agenturen um Transparenz bemühen: In den Ländern, in denen Babys leicht erhältlich sind, beissen Kontrolleure auf Granit. In China, Haiti, Kolumbien, Indien oder Albanien wird anders gewirtschaftet als im Westen - und auch anders überwacht.
Jennifers Mutter trägt den Namen Julia Zet Tubac. Sie wohnt im Hochland, 100 Kilometer nördlich von Guatemala-Stadt.
Julia, warum haben Sie Jennifer verschenkt? «Mein Arbeitgeber sagte, ich könne mit dem Kind nicht mehr zur Arbeit kommen.» Haben Sie Geld für das Kind bekommen? «Do?a Selma schenkte mir 400 Quetzales.» Was haben Sie damit gekauft? «Zucker, Reis und andere Lebensmittel.»
400 Quetzales sind 70 Franken. Ein Paar mit Kinderwunsch hätte für Jennifer ohne weiteres 40 000 Franken bezahlt.
Unicef prangert Guatemala seit Jahren an. Kein Land exportiere gemessen an der Bevölkerung mehr Babys als das «Paradies der Kinderhändler» (Unicef). Das Geschäft einer wahren Babymafia lief wie geschmiert, bis in den Neunzigerjahren Meldungen über gestohlene Säuglinge an die Weltöffentlichkeit drangen. Davon alarmiert, schuf die Staatengemeinschaft 1993 ein Regelwerk für internationale Adoptionen, das Abkommen von Haag. Es sieht vor, dass bei Adoptionen keine ungebührlichen Entgelte bezahlt werden dürfen, und wurde inzwischen von 70 Ländern ratifiziert. 2003 wollte auch Guatemala die Haager Grundsätze einführen und verhängte einen Adoptionsstopp. Das 50-Millionen-Dollar-Geschäft der Babymafia brach ein.
Doch zumindest Adoption Resources reagierte rasch. Aus Costa Rica, so der Plan der Firma, könnten guatemaltekische Babys mit falschen Papieren weiterhin verkauft werden. Darum landete Jennifer 1500 Kilometer weiter südlich in San José.
Jennifers Odyssee begann an einem Ort, wo keine Strasse hinführt. An einem Hang steht eine fensterlose Wellblechhütte. Es ist das Zuhause von Mutter Julia und ihren Eltern: Drei Betten und ein Tisch, auf dem ein Fernseher steht; es läuft eine Telenovela in Schwarzweiss. Julias Bruder ist davor eingeschlafen, der Vater arbeitet auf dem Feld. Die Luft im Raum ist feucht, und vom Boden her riecht es nach Erde. Julias feingliedrige Finger fahren den Karree-Mustern ihrer Schürze nach wohl die Verlegenheitsgeste einer Frau, die ihre einfachen Sätze leise spricht.
«Wir sind nicht arm», sagt Julia. «Was meine Brüder und der Vater heimbringen, reicht für alle zwölf. Ich hätte das Geld nicht gebraucht. Doch als ich schwanger wurde, wollte mein Freund nicht mehr. Ich hatte Angst, Jennifer würde nie einen Vater haben. Und die Hebamme sagte, mein Baby werde in einem Flieger weit wegreisen, es werde ihm dann gut gehen. Sie sagte auch: Wenn du mehr Babys hast, dann bring sie zu mir. Ich habe Jennifer nie gesehen. Die beiden Frauen hüllten mein Kind in ein weisses Tuch und nahmen es mit. Dann, als ich nach Hause kam, sagte meine Mutter: Hol dein Kind zurück. Doch Do?a Selma war schon nicht mehr da.»
Auf der Website von Adoption Resources war damals zu lesen: «Wir akzeptieren auch Eltern, die von andern Agenturen zurückgewiesen werden (Scheidung akzeptiert, Singles okay, Elternalter 21-60, ein Jahr Ehe akzeptiert)». Und weiter unten stand: «Sie halten ein Foto eines wunderbaren Babys in den Händen. Dieses Wesen wird bald Ihr Kind sein. Wie wollen Sie es nun taufen? Experten raten, dem Kind einen amerikanischen Namen zu geben und einen ethnischen. So kann Ihr Kind einst wählen, welchen Namen es haben will.» Als Julia ihr Baby gebar, sagte Do?a Selma: «Wir nennen es Jennifer Estefania.» Julia nickte stumm.
«Kein Erbarmen verdient»
Neben der Villa in «EI Jardin», San José, wohnt eine Frau von kleinem Wuchs, die ihren Namen nicht verraten will. Sie sagt: «Diese Teufel haben von Gott kein Erbarmen verdient.» Sie meint die Kinderhändler. Haben Sie die Razzia gesehen? «Nein, ich war damals nicht in der Stadt.» Haben Sie der Polizei gemeldet, dass im Haus etwas nicht stimmte? «Nein, ich bekam es erst im Nachhinein mit. » Die Dame bekreuzigt sich und schliesst die Tür. Laut der Staatsanwaltschaft von Costa Rica meldete sich diese Nachbarin im Vorfeld der Razzia bei der Polizei. Die Frau habe beobachtet, dass nachts Babys in das Haus gebracht wurden. Nachts habe sie auch Fremde kommen sehen, sie hätten die Kleinkinder abgeholt.
Während der Razzia lässt die Polizei alle Verdächtigen in eine Reihe stellen. Dorian fleht: «Lasst den Schweizer gehen. Er hat hiermit nichts zu tun.» Ihre Mutter bestätigt: «Dieser Muchacho ist nur ein Gast.» Der Einsatzleiter führt Gilles als Ersten ab. Der Junge landet in Untersuchungshaft.
In ihrem Haus ausserhalb von San José sieht Gilles Mutter an diesem Abend fern. Der «Schlag gegen die Kinderhändler» kommt auf allen Kanälen. Am TV erkennt die Mutter die Freundin ihres Sohnes. Dorian wird in Handschellen vorgeführt. Sohn Gilles kehrt diese Nacht nicht heim.
Am nächsten Morgen tritt der Präsident von Costa Rica vor die Presse. «Es stimmt mich traurig, dass diese Kinderhändler in unserem Land agieren konnten», sagt er. Dann folgt ein Versprechen: «Wir sorgen dafür, dass so etwas nie mehr vorkommt und dass die Übeltäter im Gefängnis bleiben.»
Am selben Tag betritt Gilles die Hallen der Strafvollzugsanstalt. Die Sträflinge kreisen ihn ein, rempeln und pöbeln. Dann bahnt sich ein glatzköpfiger Hüne den Weg zu ihm und baut sich vor dem Jungen auf. Der Mann trägt den Namen Cartago. Er ist derjenige, der hier die Fragen stellt. Cartagos Frage lautet: «Warum bist du hier?» - «Kinderhandel», sagt der Schweizer. Kinderhandel? Cartago grunzt: «Du Wicht bist bestenfalls fürs Windelnwechseln gut.» Cartago erklärt Gilles zu seinem Schützling. Sie verbringen die Tage zusammen und die Wochen. Dann werden sie zu Freunden. Gilles' Haft dauert fünf Monate. Seine Mutter sagt: «Cartago war in dieser Zeit meine letzte Hoffnung.»
Am 21. Dezember 2003 titelt die «SonntagsZeitung»: «Schweizer Kinderhändler in Costa Rica verhaftet». Gilles Mutter liest laut vor: «R.s Aufgabe bestand gemäss ersten Erkenntnissen der Ermittler darin, Säuglinge zu beschaffen. Ausserdem warb der Babyvermittler junge Frauen an, die sich bei den Ämtern als leibliche Mütter ausgaben.» Die Hände der Mutter zittern, ihre Miene gefriert. Ciudad Colón, ein Vorort von San José, im Juni 2005. Gilles sitzt daneben mit nacktem Oberkörper, die Arme verschränkt, und eine Tropennacht bricht ein. Die Spiegelung zweier Neonröhren nimmt in den Augen des Jungen Kontur an.
Gilles R., in Freiburg geboren, Kindheit in Costa Rica, zurück in die Schweiz, dann wieder nach Costa Rica, wo er seit kurzem Automechaniker lernt. Verrückt», sagt er. Und erzählt, wie er Dorian kennen lernte, die Frau, die ihm all das eingebrockt hat. Es begann im Restaurant «Manolo», wo er Gäste platzierte für 600 Franken Lohn. Gilles' Familie lebt von einer halben IV-Rente, von 1300 Franken im Monat. Mit ihrer Mutter kam Dorian eines Abends zum Nachtessen. Sie gefielen sich.
Kurz darauf zog Dorian bei Gilles' Familie ein. «Vielleicht», sagt Gilles' Mutter, «suchte sie den Ausstieg aus dem Business mit den Babys.» Gilles Blick irrlichtert über die Veranda. Zu Hund «Marco», der hechelnd am Boden liegt. Zu seinem Chevrolet dort in der Dunkelheit, sechs Zylinder, 1500 Dollar, 200000 Kilometer. Er liebt diesen Motor, den Ton, die Kraft. Wenn Gilles erzählt, erklingt ein Ostschweizer Kehlkopf, der auf den Sprachfluss der jungen Machos von San José getaktet ist. Der Vater hatte einen Unfall, und seine Rente hätte nie gereicht. So kamen sie hierher. Später, als er Teenie war, versuchte es die Familie wieder in der Schweiz. Doch zu spät. Er sagt: «Ich bin Latino, guck mich an.» Dann tippt er mit dem Daumen auf die Brust. «Das hier ist der Kinderhändler. »
Mit drei bis sechs Jahren Haft wird bestraft, wer Minderjährige bei sich hält mit dem Zweck, sie der Adoption zuzuführen; das steht im Strafgesetzbuch von Costa Rica, Artikel 184bis. Der Artikel ist neu. In den letzten Jahren hat sich der Kleinstaat beim Kinderschutz zum Musterschüler entwickelt. In San José weisen zurzeit Plakate darauf hin, dass die Integrität der Kinder ein hohes Gut sei. Nächste Woche soll der Fall Gilles R. verhandelt werden.
Ein Präzedenzfall für Zentralamerika
Damit steht das erste Urteil über Kinderhandel in Zentralamerika an, und die Justiz möchte offensichtlich ein Exempel statuieren. «Das Ausland und die Nichtregierungs-Organisationen beobachten uns aufmerksam. Wir nehmen die Arbeit ernst», sagt Staatsanwältin Andrea Murillo; sie bereitet die Anklage vor. Die Prävention funktioniere inzwischen gut. Nun könne ihr Land beweisen, dass auch die Restriktionsmassnahmen greifen.
Dafür scheute man keinen Aufwand. Berge von Dokumenten wurden in ein halbes Dutzend Länder gefaxt. Rechtshilfegesuche wurden gestellt und Haftverlängerungen praktisch im Wochentakt beantragt. Wurde Gilles Opfer einer übereifrigen Justiz? Diese Frage will in Costa Rica keiner beantworten. Der Fall scheint inzwischen vielen peinlich zu sein. Immerhin lässt Staatsanwältin Murillo durchblicken, dass man gegen den Schweizer keine Anklage erheben wird. Offiziell sagt die Ermittlerin nur: «Gilles R. war uns ein wichtiger Zeuge.» Dennoch: Sein Pass bleibt vorderhand konfisziert.
Im Frauengefängnis Buen Pastor am Stadtrand von San José steht eine junge Frau auf dem Hof, starr wie eine Säule. Sie ist grell geschminkt. Auf ihren Wangen dringen winzige Schweissperlen durch das Make-up. Es ist drückend heiss, auch im Schatten unter dem Wellblechdach, das den Hof bedeckt. Die junge Frau ist Dorian Perez.
Dorian, ist Gilles unschuldig? «Sicher. Er wusste von nichts. Ich erzählte ihm nie, womit meine Mutter Geld verdiente.» Haben Sie das der Staatsanwaltschaft gesagt? «Natürlich.» Wann? «Im Dezember 2004.» Warum nicht früher? «Wir hatten keine Gelegenheit.» Hat Ihre Mutter mit Kindern gehandelt? «Sie organisierte Adoptionen. Das ist überall legal, ausser in Costa Rica.» Dorian schaut zu Boden, eher verärgert als beschämt. «Was haben wir schon getan?», fragt sie. «Was war unrecht?»
Dorian Perez sitzt seit 21 Monaten in Untersuchungshaft, weil sie laut Zeugen zwei Frauen ins Spital begleitet haben soll. Es waren Frauen aus Guatemala, die schwanger am Flughafen von San José ankamen. Dort soll Dorian diese abgeholt und zur Entbindung begleitet haben. Dann kam Dorians Mutter und brachte die Babys ins Haus mit den Wiegen.
Rätsel um den Pass
Jennifers Weg war komplizierten Eine Woche nach der Geburt reiste Julia mit dem Säugling in die Hauptstadt Guatemalas; das ist ein Fussmarsch von zwei Stunden, gefolgt von nochmals zwei Stunden Busfahrt. Am 2. September 2003 liess sich Julia einen Pass ausstellen für sich und für ihr Baby. Julias Pass besagt, dass sie tags darauf ein Flugzeug bestiegen haben soll, 90 Minuten bis San José. Schon am nächsten Tag soll Julia wieder heimgeflogen sein, allein. Jennifer blieb in San José.
Eine Kopie von Julias Pass mit entsprechenden Ein- und Ausreisestempeln liegt den Ermittlern vor. Dieser Pass widerspricht den Aussagen von Julia. Sie selbst wurde von der Polizei nie befragt. Wahrscheinlich reiste sie nie nach Costa Rica. Eine andere Frau muss Jennifer dorthin gebracht haben - mit Julias Papieren.
Solche Schmuggelaktionen wären heute nicht mehr nötig. Guatemala ist wieder das Paradies der Kinderhändler. Ende 2003 sorgte eine Lobby von Anwälten dafür, dass die Regierung das Abkommen von Haag ausser Kraft setzte. Im letzten Jahr erreichte der Export mit 20 Babys pro Tag eine Höchstmarke. «Es gab 14 Versuche, den Kinderexport gesetzlich zu regeln», sagt Streetworker und Kinderrechtler Carlos Toledo, «doch sie scheiterten alle. Das Geschäft der Babyhändler ging immer vor.»
Carlos Toledo fährt fast jeden Abend mit einem Jeep voll Suppentöpfen zu den Strassenkindern, um die sich sein Hilfswerk Nuestros Derechos (Unsere Rechte) kümmert. In dieser Nacht hält sein Jeep bei einer stillgelegten Tankstelle an. Als Toledo aussteigt, weht ihm eine Wolke aus Fäkalien- und Abfallgeruch entgegen. Die alte Tankstelle ist das Heim von Sandra Guamux und ihrem Baby. Über den Augen der 19-Jährigen liegt ein Film wie aus Milchglas, in ihren Wangen hat sich ein entrücktes Lächeln eingenistet. Wenn Sandra ihren Schwamm vor den Mund hält und Lösungsmittel inhaliert, wird dieses Lächeln breiter. Dann spürt sie keinen Hunger mehr und auch keine Kälte.
Sandra gibt ihr Baby Adolfo keine Sekunde aus den Händen. «Schau dieses Kind an», sagt Toledo, «es ist 25 000 Dollar wert.» Adolfo ist Sandras zweites Kind. Das erste war ein Mädchen. Eines Morgens erwachte die Mutter aus ihrem Rausch, und es war weg.
«Es wird nie ihr Baby sein»
«Sie war erst fünf Tage alt», sagt Sandra, «sie haben mir mein Kind genommen.» Dann führt sie ihren Schwamm zum Mund und inhaliert.
Sandra, was ist mit dem Kind passiert? «Sie haben es gestohlen.» Wen meinen Sie? «Die Leute, die Kinder verkaufen.» Waren Sie bei der Polizei? jeden Tag, zwanzigmal. Sie wollten mir nicht helfen.» Was sagte die Polizei? «Ich müsse ein Foto bringen. Doch ich hatte kein Foto. Sie wollten meine Papiere sehen. Doch ich hatte keine Papiere.» Glauben Sie, dass Ihr Kind noch lebt? «Sicher. Diese Leute haben es zur Adoption gegeben.» Vielleicht denken die Eltern, die ihr Kind jetzt haben, dass es ihm nun besser geht. «Das dürfen sie nicht denken. Es ist nicht ihr Kind. Es wird nie ihr Baby sein.»
Fünf Strassenblocks weiter, in der Lobby des «Marriott»-Hotels am nächsten Morgen: Malermeister Floyd streichelt ein Baby namens Blake. Daneben sitzt Floyds Ehefrau und sagt kein Wort. Es ist Floyd, 35, aus North Carolina, USA, der erzählt, wie sie das Kinderzimmer bemalten, wie sie Spielzeug kauften, wie lange sie warteten, bis sie nach Guatemala reisen konnten, um Blake zu holen. «Guatemala hat viele Vorteile», sagt Floyd, «wir dachten auch über Kasachstan nach, doch hier kann man sein Kind vor Ort auswählen.» Blake, das Baby, lächelt.
Floyd, wissen Sie, woher das Kind kommt? «Man sagte uns, dass die Mutter schon neun Kinder hatte. Darum gab sie Blake zur Adoption.» Wie viel bezahlten Sie? «Gut 30 000 Dollar.» Wissen Sie, wohin das Geld geht? «Zur Agentur, dann zu den Anwälten, wahrscheinlich auch zur Regierung. Guatemala ist korrupt.» Und die Mutter? «Was sie bekam? Keine Ahnung.»
Jennifer wurde Mitte Mai 2005 zusammen mit vier weiteren Babys, die man bei der Razzia fand, nach Guatemala repatriiert. Als die Babys ankamen, begab sich die Gattin des Präsidenten zum Flughafen. Kameras waren da, und die Präsidentengattin sagte: «Wir wollen nur das Beste für diese Babys, denn sie wurden zu Opfern einer Bande von Kinderhändlern.»
Heute lebt Jennifer im einzigen staatlichen Kinderheim von Guatemala-Stadt. In den nächsten Tagen entscheidet ein Richter, was mit ihr geschehen soll. Die Eltern von Julia haben sich gemeldet. Sie wollen ihr Enkelkind adoptieren.
Julia, vermissen Sie Jennifer? «Ich kenne sie ja nicht.» Sind Sie nie traurig? «Ich war traurig, weil Jennifer keinen Vater hatte.» Mussten Sie weinen? «Ja, drei Tage lang, als ich nach Hause kam ohne Kind. Meine Mutter schlug mich drei Tage lang.» Wollen Sie das Kind zurück? «Ich weiss nicht, es waren Leute da von der Regierung. Die fragten dasselbe. Ich sagte: Wenn Sie es mir zurückgeben, werde ich es nehmen.»
Den Angestellten im Kinderheim sagt Jennifer seit kurzem «Mami».