exposing the dark side of adoption
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Ich will euch nie wieder sehen, ihr seid ja gar nicht meine richtigen Eltern

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Ich will euch nie wieder sehen, ihr seid ja gar nicht meine richtigen Eltern
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22. Dezember 2008 Ein Kind zu adoptieren ist eins der größten Projekte, die man im Leben unternehmen kann. Dennoch fehlt bei Adoptionen oft das nötige Maß Überlegung, haben Wolfgang Oelsner und Gerd Lehmkuhl festgestellt, Kinderpsychotherapeut der eine, Kinderpsychiater der andere. Adoptionen, so die Autoren, können eine ganz unberechenbare Beziehungsdynamik entwickeln, in der es oft nicht reicht, es einfach nur gut zu meinen.
Damit wollen sie niemanden entmutigen, im Gegenteil: die meisten Adoptiveltern, so betonen sie, sind mit der Adoption sehr zufrieden, und der überwiegende Teil der adoptierten Kinder entwickelt sich positiv, deutlich positiver auf jeden Fall, als sie sich in Pflegeinstitutionen entwickelt hätten. Oelsner und Lehmkuhl wollen bloß kein rosarotes, sondern ein realistisches Bild dessen zeichnen, was mit einer Adoption auf eine Familie zukommen kann.

Dazu zeigen sie in ihrem vielseitigen Ratgeber anhand zahlreicher Fallstudien, was schiefgehen kann und wie die Eltern damit umgehen können. Generell raten Psychologen zu einem möglichst offenen Umgang mit dem Thema Adoption. Späte Eröffnungen von der Art "Du bist nun groß, wir müssen dir etwas sagen" gelten als unverantwortliche Erschütterungen eines kindlichen Lebenslaufs. Doch auch ein Kind, das von klein auf um seine Adoption wusste und damit nie ein Problem zu haben schien, kann "aus der Rolle fallen".
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Adoption von Oelsner, Wolfgang
Das dafür zitierte Beispiel ist Anja. Als die Eltern nach Hause kommen, ist die Wohnung verwüstet, Anja, die Adoptivtochter, verschwunden, und mitten im Durcheinander liegt ein Zettel mit der Aufschrift: "Ich will euch nie wieder sehen". Obwohl alles gutgegangen war, bis Anja in die Pubertät kam. Adoptierte Kinder neigen dazu, heftiger auf Krisen zu reagieren als ihre Altersgenossen. Manche entwickeln eine Art schlechtes Gewissen gegenüber der meist schlechtergestellten Herkunftsfamilie. Viele errichten in einem jahrelangen unbewusst ablaufenden Anpassungsprozess an das neue Elternhaus einen emotionalen Damm, hinter dem sich Fragen und Zweifel stauen, die nicht offen angesprochen werden dürfen oder können. Bricht so ein Damm, "drohen Überschwemmungen und Zerstörungen ungeahnten Ausmaßes", so die Autoren.
Eltern, so das Fazit, sollten sich nicht zu früh in der Sicherheit wiegen, dass die Adoption "geklappt" hat. Je eher sie in der Lage sind, zerstörerische Dynamiken zu erkennen und mit dem Kind und wenn nötig mit professionellen Ansprechpartnern zu thematisieren, desto größer sind die Chancen, dass solche Dammbrüche glimpflicher ablaufen.
Die Beweggründe für eine Adoption können ganz unterschiedlich sein: von der belastenden Erfahrung der eigenen Unfruchtbarkeit, über den altruistischen Wunsch, einem benachteiligten Kind eine bessere Zukunft zu geben, bis zu dem Versuch, dem eigenen Leben einen Sinn zu geben. Solche Beweggründe sind völlig legitim, meinen die Autoren, auch in der Adoption gibt es eine seelische Kosten-Nutzen-Rechnung. Doch die Adoptiveltern sollten sie sich bewusstmachen, damit sich ihre Motive nicht verselbständigen können, wie bei der Mutter, die ein behindertes Kind aufnimmt und sich aufopferungsvoll um seine Unterstützung bemüht, aber nicht verkraften kann, dass das Kind trotz allem ihren Erwartung nicht gerecht wird. Erst in der Therapie kommt heraus, dass die Adoption vom frühen Tod des eigenen Kindes ablenken sollte.
In Märchen, die die Autoren wiederholt heranziehen, um Entwicklungsmuster zu verdeutlichen, setzt sich am Ende immer die Herkunft durch. Der verkannte Königssohn fällt unter den Gärtnerjungen durch seine goldenen Locken auf und wird, wenn sich erst alle Wirren gelöst haben, was ihm in die Wiege gelegt war: König. Bei Adoptivkindern gibt es ein ähnliches Phänomen: Selbst Kinder, die im Alter von nur wenigen Stunden adoptiert wurden, können die Adoptivfamilie durch ihre Fremdheit sprengen. Sie entwickeln ein Temperament, das Vater und Mutter fremd ist. Die Autoren raten den Eltern, offen zu sein für die Fremdheit, die sie mit dem Adoptivkind in ihre Familie holen.
Kommt das Kind aus einem anderen Kulturkreis, erleichtern die Eltern ihm die Orientierung zwischen den Welten, wenn sie der anderen Kultur aufgeschlossen gegenüberstehen, wenn sie akzeptieren, dass das Mädchen aus Südamerika sich mehr für ein Musical über Rio de Janeiro interessiert als für die Geschichte der rheinischen Heimatstadt.
In Krisen raten die Autoren, sich damit zu trösten, dass nicht nur Adoptivkinder versuchen, sich abzugrenzen und eine eigene Identität zu finden, auch wenn dieser Prozess bei ihnen dramatischere Formen annehmen kann. Zudem sollten Eltern sich vor Augen halten, dass das Kind die Orientierungsversuche nicht gegen sie, sondern für sich unternimmt.
Sensibel schildern die Autoren, wie aufwühlend und verwirrend die Adoption für alle Beteiligten sein kann, von der Krankenschwester, die ein Neugeborenes in der Babyklappe findet und es am liebsten gar nicht mehr hergeben würde, über Pflege- und Adoptionsfamilien, die ihr Kind ohne den neunmonatigen Vorlauf der Schwangerschaft in der "Amtsstube statt im Kreißsaal" bekommen, bis hin zur sich immer wieder verändernden Sicht des adoptierten Kindes selbst.
Manche Eltern, so die Autoren, gehen an die Adoption heran wie an die Renovierung eines Altbaus, mit großem Einsatz, professionell, aber nicht empathisch. Andere entscheiden aus dem Bauch, sind taub für den Rat von Fachleuten und stehen am Ende entsetzt vor den Scherben einer Beziehung, in die sie so viel investiert haben. Idealerweise, so die Autoren, bringen Adoptiveltern Herz und Verstand zusammen, sind mutig und vorsichtig und können bei aller Liebe ihre Familie und deren Dynamik mit ein wenig Distanz betrachten.
MANUELA LENZEN.
Wolfgang Oelsner, Gerd Lehmkuhl: "Adoption". Sehnsüchte, Konflikte, Lösungen. Patmos Verlag, Düsseldorf 2008. 180 S., br., 12,90 [Euro].


Buchtitel: Adoption
Buchautor: Oelsner, Wolfgang

Text: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 22.12.2008, Nr. 299 / Seite 35

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2008 Dec 22